Gruß zum Sonntag
Zerbrochene Menschlichkeit
(c) photodisc4225.08.2021 dr_pw Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Haben Biologen und Verhaltensforscher Recht, wenn sie behaupten, Menschen könnten eigentlich nicht allumfassend lieben? Vom Aufbau unseres Gehirns her wären wir nur in der Lage, für wenige Menschen um uns herum echte Gefühle zu entwickeln und Verantwortung zu übernehmen. Stimmt das, dann zeigt sich gerade das wahre Wesen derer, die die schrecklichen Nachrichten über die Verhältnisse in Afghanistan kennen und denen dann im Wahlkampf nichts anderes einfällt, als zu schwadronieren, das Jahr 2015 dürfe sich bei uns nicht wiederholen. Der Mensch kann mehr, ist mehr als ein instinktgeleitetes Wesen. Er hat Gefühle, Selbst-Bewusstsein, er ist intelligent, hat ein Gewissen, weiß auch um Verantwortung und Schuld. Deshalb wird sich diese zu Ende gehende Woche tief in unser Gewissen und Gedächtnis einbrennen.
Jeden, der auf die Stimme seines Gewissen hören kann, der sich anrühren lässt vom Leiden anderer, jeder der noch nicht verlernt hat, in den Kategorien Verantwortung und Schuld zu denken, zu fühlen und zu handeln, den haben die Bilder und Nachrichten aus Afghanistan nicht kalt gelassen. Da hätten Deutsche um Haaresbreite die Chance verpasst, ihren Schlächtern zu entkommen. Keiner weiß genau, wie viele Menschen mittlerweile mit Todesangst in der Falle sitzen oder schon tot sind. Umso erbärmlicher und entsetzlicher war, was von den politisch Verantwortlichen geboten wurde. Es wurden auf höchster Ebene furchtbare Fehler gemacht – durch Fehleinschätzung, durch verspätetes Eingreifen und Hilfeleistung, durch bürokratische Hürden. Dadurch sterben jetzt Menschen.
Ich bin davon ausgegangen, dass es in unserer Gesellschaft trotz immer stärker werdender Zerrissenheit noch eine Art ethischen Kompass gäbe, ein schmaler werdendes, aber immer noch vorhandenes Fundament gemeinsamer ethischer Werte. Zum Beispiel einen Menschen zu töten ist verwerflich. Das Eigentum anderer ist zu schützen. Menschen, die sich in Not befinden und Hilfe brauchen, lassen wir nicht liegen und gehen weiter. Andere, die uns ihr Vertrauen geschenkt haben, lassen wir nicht schutzlos zurück. Wenn unser gemeinsamer ethische Kompass noch in die richtige Richtung zeigt, dann sollten wir uns mit den politisch Verantwortlichen abgrundtief schämen, denn sie haben stellvertretend für uns alle gehandelt, oder besser unterlassen.
Viele Menschen in Afghanistan brauchen jetzt unsere Hilfe. Im Land können wir sie nicht schützen und es wird so gut wie unmöglich sein, sie außer Landes zu bringen. Denjenigen, die es schaffen, sollten unsere Grenzen, unsere Häuser und unsere Herzenstüren offen stehen. Im Namen der Menschlichkeit.
21.08.2021 / Dekan Manfred Pollex
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