Auf den Spuren Martin Luthers – und der Menschlichkeit

veröffentlicht 14.11.2025 von Gabi und Jörg-Michael Keller, Ev. Dekanat an der Lahn

Erinnern heißt nicht, in der Vergangenheit zu verharren. Erinnern heißt, sich der Verantwortung bewusst zu bleiben, die wir heute tragen. Gerade in einer Zeit, in der Hass, Ausgrenzung und Gewalt wieder lauter werden, ist das Erinnern ein Akt des Glaubens und der Menschlichkeit – ein „Nie wieder!“ mit Herz und Verstand. Drei Tage waren wir mit unseren Konfirmandinnen und Konfirmanden in Eisenach unterwegs – auf den Spuren Martin Luthers, des großen Reformators, der vor mehr als 500 Jahren die Kirche und den Glauben vieler Menschen neu geprägt hat. Wir wollten ihn besser kennenlernen: den Mönch, den Gelehrten, den zweifelnden Menschen, den mutigen Bekenner.

In Eisenach begegnet uns Luther auf Schritt und Tritt – als Schüler, als Bibelübersetzer auf der Wartburg, als Mensch, der sein Leben und seinen Glauben nicht voneinander trennen konnte. Besonders beeindruckend war für viele, wie sehr Luther trotz aller Gefahren und Widerstände an seinem Glauben festhielt. Sein Mut, seine Entschiedenheit und seine tiefe Gotteszuversicht sind bis heute ein Beispiel für gelebten Glauben.

Doch unsere Reise führte uns auch an einen ganz anderen Ort – nach Buchenwald, in das ehemalige Konzentrationslager bei Weimar. Ein Ort des Grauens, der Sprachlosigkeit, des Entsetzens. Für viele unserer Jugendlichen war dies die erste Begegnung mit einem solchen Ort. Betroffenheit, Stille, Tränen – und Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt.

Was bleibt, sind Eindrücke, die nachwirken. Einer unserer Konfirmanden brachte es nachdenklich auf den Punkt:

Der Mensch kann alles sein: Täter, Opfer, Retter, Helferin, Krimineller, Wohltäterin, Mörder, Heiler, Angreifer, Verteidigerin, Engel oder Teufel … Jeder und jede kann entscheiden, was er oder sie sein will.“

Diese Worte klingen in uns nach. Sie verbinden Eisenach und Buchenwald auf eine unerwartete Weise. Luther zeigte uns, was es heißt, sich mutig für das Richtige einzusetzen – auch gegen den Strom. Buchenwald erinnert uns daran, wohin es führen kann, wenn Menschen ihr Gewissen verlieren.

Am Abend nach unserem Besuch in Buchenwald haben wir eine kleine Andacht gefeiert – als Moment der Besinnung und Einkehr. In Stille und im Schein vieler Kerzen erinnerten wir uns an die Opfer des Nationalsozialismus. Jede und jeder legte einen kleinen Stein nieder – in Anlehnung an die jüdische Tradition, in der Steine zum Zeichen des bleibenden Gedenkens werden. Es war ein stilles, aber tief bewegendes Zeichen: Wir vergessen nicht. Und wir tragen Verantwortung dafür, dass sich solches Leid niemals wiederholt.

Wir haben uns auch mit der Rolle der Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Dabei wurde deutlich, dass viele Christinnen und Christen – ebenso wie große Teile der Kirche – lange geschwiegen oder sich sogar mit dem Regime arrangiert hatten. Grundlage unserer Diskussion war unter anderem das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945, in dem die evangelische Kirche ihr Versagen benannte und um Vergebung bat. Ebenso haben wir uns mit der Vereinnahmung der Jugend durch das NS-Regime beschäftigt und darüber gesprochen, wie leicht junge Menschen damals in eine Ideologie hineingezogen wurden, die Gemeinschaft versprach, aber Menschlichkeit zerstörte.

Besonders beeindruckt haben unsere Konfirmanden die Beispiele von Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller, zwei mutige Theologen, die sich dem Unrecht widersetzten und für ihren Glauben und ihre Überzeugung bereit waren, großes persönliches Risiko auf sich zu nehmen. In ihrer Haltung wurden für uns zentrale christliche Werte sichtbar: Mut, Gewissen, Nächstenliebe und Verantwortung.

In unseren Gesprächen fanden unsere Konfirmandinnen und Konfirmanden auch Antworten auf ihre vielen Fragen:

Dass Verantwortung nicht nur Denken, sondern auch Handeln bedeutet – im Großen wie im Kleinen.

Dass man nicht blind und unreflektiert rechte oder rassistische Thesen – etwa auf TikTok oder in anderen sozialen Medien – übernehmen darf, sondern den Mut haben muss, dagegen zu argumentieren.

Dass es wichtig ist, mit Wissen und Haltung gegen Geschichtsverdrehung und falsche Behauptungen aufzustehen.

Und dass Christsein immer auch heißt, hinzusehen, wo Unrecht geschieht – und zu helfen, wo wir helfen können.

So wurde unsere Exkursion mehr als nur eine Reise in die Geschichte. Sie wurde zu einer Begegnung mit Fragen und Antworten, die auch heute aktuell sind:

Woran glaube ich?

Wofür stehe ich ein?

Wie gehe ich mit meiner Verantwortung als Mensch und Christ um?

Mit diesen Erfahrungen sind wir nach Hause zurückgekehrt – dankbar, nachdenklich, bewegt. Und vielleicht auch ein kleines Stück „reformiert“.

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“

— Micha 6,8