Zeitenwende
14.01.2023 / Dekan Manfred Pollex
Was war das für ein Jahr 2022! Der 24. Februar wird sich tief in unser kollektives Gedächtnis eingraben. Es ist wieder Krieg in Europa und niemand weiß anscheinend, wie dieser in absehbarer Zeit gestoppt werden kann.
Der Bundeskanzler hat schnell reagiert und bereits drei Tage nach dem Überfall der Ukraine mit der „Zeitenwende“ das richtige Wort gefunden. Es geht in eine andere Richtung weiter und Vieles, was uns bisher sicher, verlässlich und solide war, hat sich über Nacht verabschiedet. Das Blut, das Leid der Soldaten und Zivilisten schreit zum Himmel, so viele Tote, sinnlos gestorben, so viel Zerstörung, Hunger, Todesangst in den Kellern und U-Bahnschächten.
In unserer biblischen Tradition gibt es für die großen Wendemanöver im Weltgeschehen genauso wie im persönlichen Leben ein Wort, das „Umkehr“ heißt. Man ist entweder ohne groß nachzudenken oder ganz bewusst in eine Richtung gegangen und gelangt zu der Einsicht: „So kann das nicht weiter gehen! Dieser Weg, den du gehst, endet in einer Sackgasse, in der Katastrophe, vielleicht sogar im Tod.“
Umkehr, dieser radikale Kurswechsel, bedeutet vom griechischen Wortsinn her auch Wechsel des Sinns, Veränderung der Einsicht.
Mit Blick auf unsere Gegenwart stellt sich dann die Frage: Was kann noch geschehen, wenn das Blut der Ukrainerinnen und Ukrainer und der russischen Soldaten zum Himmel schreit und vielen Menschen nichts weiter einfällt als der Ruf nach noch mehr und stärkeren Waffen?
In unserer evangelischen Tradition gibt es die gute Sitte der Jahreslosung. Sie ist ein Wort aus der Bibel, das zum Begleiter durch ein ganzes Jahr werden soll. Für dieses Jahr ist es ein Satz aus dem 1. Mosebuch, der heißt „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Es ist die Feststellung, dass kein Lebensschicksal Gott verborgen bleibt, dass es Gott braucht, der uns erkennen lässt, ob wir auf bösen Wegen sind, der unsere Wege sieht und uns zurecht bringen kann.
Hagar, die Frau, die diesen Satz spricht, kann mit dieser Erkenntnis, dass Gott sie ansieht, wahrnimmt und wert schätzt, umkehren und ihr Leben wieder in die eigene Hand nehmen.
Ein Gott, der die Menschen dieser Erde anschaut und deren Blut, das zum Himmel schreit, hört, ist auch ein Gott, der das Böse aufdeckt und den Mördern und Tyrannen dieser Welt den Spiegel ihrer Taten und Unterlassungen vorhält. Möge dies sehr bald zu einer weiteren Zeitenwende führen, hin zum Frieden, dass alle wieder sicher wohnen können. Und mögen wir sehr bald die Erkenntnis gewinnen, welchen Beitrag wir dazu leisten können.
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