Nie wieder Krieg!
05.03.2022 / Dekan Manfred Pollex
In diesem Jahr wird meine Mutter 94 Jahre alt.1928 geboren, war sie fünf als die Nazis an die Macht kamen, elf als der Zweite Weltkrieg ausbrach, in den folgenden sechs Jahren verlor sie im Krieg ihre Kindheit, musste miterleben, wie ihre Schwestern vergewaltigt und geschändet wurden, der Vater verschleppt und über ein Jahr lang wegen einer Falschinformation als tot galt. Seine Frau und die sechs Kinder trauerten, waren verzweifelt, weil der Ernährer fehlte. Doch eines Tages kehrte er wie durch ein Wunder gesundheitlich schwer angeschlagen, aber lebend aus Sibirien heim.
Es folgte die Vertreibung aus der Heimat Hinterpommern, lange Fahrten in Viehwaggons ohne Wasser und Brot, Hunger, Läuse und Krankheiten. Aber sie sind davon gekommen, haben den Krieg überlebt und konnten im Westen Deutschlands ihr bescheidenes Leben aufbauen. Unsägliches Leid hat das Leben meiner Mutter wie das vieler anderer ihrer Generation überschattet und geprägt. Und es war der Wunsch dieser Kriegskinder: „Nie wieder Krieg!“
In diesen Tagen telefoniere ich öfter mit meiner Mutter als sonst. Sie ist tief erschüttert über den Angriffskrieg Putins in der Ukraine. „Dass ich das noch erleben muss!“ sind immer wieder ihre Worte einer zerstörten Hoffnung auf dauerhaften Frieden in Europa. Sie hat nicht nur eine Ahnung von dem, was Krieg für die Soldaten und die Zivilbevölkerung in der Ukraine bedeutet, sondern eigene Erfahrung. Sie ist ein Leben lang vom Krieg traumatisiert.
Auch wir Jüngeren dachten, es ginge irgendwie immer so weiter mit einem friedlichen Zusammenleben, weil die Menschheit vernünftiger geworden sei, aus der Geschichte gelernt habe. Wir haben nicht sehen wollen, was wirklich war. Das, was jetzt geschehen ist, kam jedoch nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Es bahnte sich über Jahre hin an durch Gesetzesbruch, Lügen, Machtmissbrauch und Kriegstreiberei, nicht nur im Donbass und auf der Krim. Wir haben das nicht sehen wollen, verharmlost und unsere Geschäfte gemacht. Haben wir zu lange und zu heftig mit dem Teufel getanzt?
Und nun? Soviel Leid und Not, Angst, Elend und Tod bringt dieser Krieg über unschuldige Menschen. Sie brauchen unsere Hilfe. Das ganze Land Ukraine braucht unseren Beistand. Auch durch Waffen.
Es war der von den Nazis ermordete evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer, der uns lehrte, was im christlichen Sinn ein ethisches Dilemma ist: Wer sich angesichts einer mordenden Diktatur neutral stellt und sich heraushalten will, wird durch Unterlassung schuldig. Wer zur Waffe greift, den Tyrannen und seine Soldaten ermorden, die Schlacht verkürzen will, verstößt gegen das christliche Tötungsverbot. In jedem Fall ist er auf Vergebung angewiesen.
Aber vor allem war Bonhoeffer eins wichtig: Unsere Pflicht, die Opfer, die unter die Räder der Gewalt gekommen sind, zu verbinden. Die Welle der Hilfsbereitschaft ist europaweit groß. Das macht ein bisschen Mut in dunklen Tagen.
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