Meine Zeit in Gottes Hand
15.10.2022 / Dekan Manfred Pollex
Standuhren finde ich faszinierend. Wegen der Ruhe, der Behaglichkeit, wegen des tiefen Schlages. Das beruhigt mich, ich kann mich hinein geben in dieses sanfte, schwere Schwingen. Jede Sekunde ein Pendelschlag. Jede Sekunde ein Ticken. Wir rechnen unser Leben eher nicht in Sekunden. Es sind siebzig Jahre, achzig, vielleicht mehr.
Was schätzen Sie, wie viele Sekunden sind das – siebzig Jahre? Es sind genau zwei Milliarden, zweihundertsieben Millionen, fünfhundertzwanzigtausend Sekunden. In Euro und Cent wäre das viel Geld. Aber in Lebenszeit? Ich hätte mir die Zahl eigentlich noch höher vorgestellt, Billionen oder Trillionen Sekunden. Ein Fünfzigjähriger hat schon ungefähr eineinhalb Milliarden Sekunden gelebt. Millionenfach tickt und schlägt die Standuhr, schwingt das Pendel. Nichts kommt in unserem Leben zurück. Wir leben unser Leben nach vorne und verstehen es rückgewandt. Eigentlich ist es jeder Augenblick wert, dass ich ihn bewusst wahrnehme und würdige. Aber das geht natürlich nicht im Alltag, wo andere Uhren ticken. 35 Sekunden an der Ampel. 30000 Sekunden bei der Arbeit. Dann gibt es Situationen, die uns ganz wichtig sind, Zeit, die sich tief einprägt in unser Gedächtnis. Intensive Zeiten der Liebe, die bestandene Prüfung, eine Begegnung, die bleibt und prägt. Es gibt neben den vielen scheinbar belanglosen Sekunden auch Augenblicke, die verzaubern. Entscheidende Sekunden. Die Frage „Wieviel Zeit habe ich noch?“ kann das Herz zum Jagen bringen und den Augenblick zerstören. Nicht so dieses ruhige Schwingen des Pendels, dieses Jasagen zum Augenblick, die Gelassenheit, die sich hineinbegibt in Stunde und Tag, weil alles Gottes Zeit ist.
Vielleicht sind Ihnen schon einmal irgendwo diese drei Buchstaben begegnet: s.c.j. s-c-j, das ist die Abkürzung für die lateinischen Worte sub conditione jacobi, unter der Bedingung des Jakobus. Gemeint ist eine Stelle im biblischen Jakobusbrief, Kapitel 4, wo es heißt „So Gott will und wir leben.“ So Gott will und wir leben, feiern wir zusammen Weihnachten. So Gott will und wir leben, werden wir euch im Sommer besuchen. So schrieben unsere Vorfahren oft unter ihre Briefe, die auf langen Wegen den Adressaten erreichten. Im Krieg stand auf vielen Karten s.c.j. Unter der Bedingung des Jakobus. So Gott will und wir leben.
Ein ernster Gedanke. Wenn er mich nicht mehr beunruhigt, bin ich einen wichtigen Schritt weiter, kann mich tragen lassen vom Uhrwerk, Sekunde um Sekunde, kann den Augenblick im Leben genießen ohne die Angst, ihn zu verlieren. Meine Zeit steht in Gottes Hand.
Diese Seite:Download PDFTeilenDrucken