Eine zweite Chance
30.04.2022 / Dekan Manfred Pollex
Vierzehn Jahre lang stand ein wundervoller Rosenstock in unserem Garten. Ich hatte ihn zu meinem 50. Geburtstag geschenkt bekommen und er bedeutete mir all die Jahre viel. Großartige Pflege brauchte er nicht und jedes Jahr verströmten die gelb-cremigen Rosenblüten einen betörenden Duft.
Dann kam der Umzug und wir standen vor der Frage, welche Pflanzen mitgenommen werden sollten. Viele waren zu groß geworden, andere würden das Umpflanzen in den neuen Garten voraussichtlich nicht überleben.
Ich entschied, dass mein Rosenstock zu mir gehört und auf jeden Fall mitkommen soll. Das war ein Wagnis, denn er war alt und die neuen Triebe waren weit entwickelt und voller grüner Blätter.
Nach dem Umzug fanden wir einen guten Ort im Garten und sparten nach dem Einpflanzen nicht mit Wasser. Die nächsten Wochen wurden heiß und trocken und das junge Grün verwelkte trotz aller Bewässerung. Im Herbst war schließlich nur noch braunes Rosenholz zu sehen. Die Äste wurden abgeschnitten und es blieb nun von dem prächtigen Rosenbusch nur noch wenig übrig.
Im nächsten Frühjahr hat eigentlich keiner mehr etwas von dieser Rose erwartet, doch es kam anders. Aus scheinbar totem Holz und Wurzel wuchsen kleine, neue Triebe heraus. Es war wie ein Wunder. Heute steht mein Rosenstock wieder da; spärlich, aber lebendig.
Meine Rose ist mir zum Zeichen geworden. Das Leben gleicht dieser Pflanze in meinem Garten. Schnell sagen wir: Den kannst du vergessen. Die Härte und Entbehrung des Lebens setzt einem zu. Es braucht Zeit, sich davon zu erholen. Manchmal dauert es Jahre, bis ein Mensch zu neuem Leben erwacht – nach einem schweren Schicksalsschlag, in Zeiten der Krankheit, in der Trauer. Manchmal zweifeln wir, ob überhaupt noch etwas Neues kommt, weil für uns nichts Neues mehr zu sehen ist. Wenn ein Mensch nichts mehr zu glauben und zu hoffen wagt, dann können wir das stellvertretend für ihn tun: Ihm Mut machen, für ihn hoffen, abwarten und jeden neuen Ansatz stützen.
Jesus erzählte einmal das Gleichnis vom Feigenbaum. Ein Baum trägt keine Frucht, drei Jahre sucht der Besitzer vergeblich nach Ertrag. Dann beschließt er, den Baum umzuhauen. Aber der Gärtner bittet: „Lass ihn noch dieses Jahr, bis ich um ihn grabe und ihn dünge.“ Wie gut täte es uns, wenn wir es mit solchen Gärtnern des Lebens zu tun hätten. Das Leben wäre voller Zuversicht und schön, wie ein bunter, blühender Garten.
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