Als die Synagogen brannten
12.11.2022 / Dekan Manfred Pollex
Der 9. November 1938 ist ein Tag, der nie in Vergessenheit geraten darf. 84 Jahre ist es her als in unserem Land die Synagogen brannten, jüdische Gotteshäuser von braunem Mob angezündet wurden, jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger bedrängt, drangsaliert, verfolgt, verschleppt, später in Konzentrationslager gebracht und zu Millionen ermordet wurden.
Wen interessiert das heute noch? Wer möchte sich mit dieser Schuld der Vorfahren ernsthaft auseinander setzen? Dennoch darf die Erinnerung an ein kollektives menschliches Versagen einer ganzen Nation, die sich als christlich geprägt verstand, nie verblassen. Warum?
Als ich vor Jahren in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem war, habe ich die direkte Betroffenheit auch als Nachgeborener gespürt. Es waren nicht so sehr die Bilder und Fakten, die waren weitgehend bekannt. Es war die Tatsache, dass da die Vernichtungsbefehle in verschiedener Übersetzung vorlagen. Aber ich konnte die Originale lesen und verstehen. Ich brauchte keine Übersetzung. Das war meine Sprache, meine Herkunft. Dann verschlägt es einem an diesem Ort die Sprache. Man möchte da nicht mehr sprechen: deutsch sprechen.
Das Gedenken muss bleiben. Was wäre die Alternative? Das Gegenteil vom Erinnern ist das Vergessen. Wenn wir die Namen der Opfer vergessen würden, dann hätten die Mörder ihr Ziel erreicht, die aus Menschen Nummern gemacht haben, die verbraucht und verbrannt wurden. In Yad Vashem forscht man nach jedem einzelnen Opfer und bewahrt die Namen auf. Und bei unseren jährlichen Gedenkfeiern am 9. November werden an den Stolpersteinen auf unseren Bürgersteigen die Namen derer genannt, die damals zum Schweigen gebracht wurden. Die Opfer sind nicht vergessen. Ihre Namen sind unter uns gegenwärtig. Es ist schlimm, einfach vergessen zu werden. Vergiss nicht! Erinnere dich! Diese Aufforderung durchzieht durchweg die Hebräische Bibel, unser Altes Testament. Unsere Bibel ist ein Gedenkbuch.
Es erschreckt mich, dass auf den Schulhöfen „du Jude“ wieder zu einem gängigen Schimpfwort geworden ist, ja, es beschämt mich, dass der Hass gegen Menschen jüdischen Glaubens wieder um sich greift. Das Erinnern kann, ja muss unser gegenwärtiges Verhalten beeinflussen: Zivilcourage, Widerspruch sollte daraus hervorgehen, der Menschenhass im Keim erstickt.
Wer die jüdische Gedenkstätte Yad Vashem verlässt, bedrückt und erschlagen, kommt am Ende an ein großes Fenster, das bis zum Boden reicht. Da blickt man auf das moderne Jerusalem und versteht: Es gibt Gegenwart. Es gibt Zukunft. Trotz allem, was gewesen ist.
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